Wikipedia, Europa und der Papst

Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Erstmal vorweg:
Ich finde die Bezeichnung der Wikipedia als "Maschine" von euch (Ash und Diana) nicht treffend. Maschine hat Konnotationen wie "unmenschlich", "kalt", "gesteuert" ... ;😉 😀 ... das mögen eure persönlichen Vorurteile sein. Letztlich handelt es sich dennoch um eine von Menschen zusammengestellte Ansammlung an Informationen, die sehr lebendig ist, ständig durch Diskussionsplattformen zu Beiträgen aktiv diskutiert und reflektiert wird aber natürlich auch, ;😉 genau wie Zeitungen, im Netz steht.

DianaS schrieb:
Lady Ash schrieb:
Ich halte diese Informationsmaschinen für ein Phänomen der heutigen Zeit, im Einklang mit dem generellen Verlangen nach sofortiger Befriedigung jeglichen Verlangens. Information ist nur noch einen Mausklick entfernt und man bekommt (wenn man Glück hat) eine gute Zusammenfassung und muss nicht mehr lange selber lesen und überlegen. (Wenn man Pech hat, ist es auch nur eine schlechte Zusammenfassung, und wie unterscheide ich das, aber das hatten wir ja schon). Das Problem ist, dass diese zusammengefassten Stichpunkte eben nicht eigenes Wissen ersetzen können und Suchmaschinen so paradoxerweise die Tendenz des allgemeinen Wissensverlustes eher unterstützen.
Dem schließe ich mich uneingeschränkt an
Ich nicht.
Auf keinen Fall uneingeschränkt.
Der bloßen Feststellung zum Zeitgeist stimme ich auch zu aber:
Wieso ist es aus Prinzip schlechter, nur, weil es mit nem Mausklick schneller geht? Muss ich in ne Bibliothek rennen, um herauszufinden, was ein "Thread" ist, ob ne Aubergine in ein Ratatouille gehört oder wie der amtierende Bürgermeister von Timbuktu heißt?
Ich finde, man muss da differenzieren bezüglich Zweck und Inhalt. Wozu brauch ich das Wissen, ist das Wissen von grundlegender Bedeutung oder handelt es sich um schnellebiges Faktenwissen, das bald veraltet sein wird?

Richtig: eigenes Wissen bzw. hier Denken kann nicht durch einen Mausklick oder durch das Überfliegen eines Buches ersetzt werden, da es im Sinne einer Bildung erarbeitet werden muss .. faktisches Wissen hingegen kann durchaus ergänzt werden... und was man letztlich mit den Informationen, die man schnell oder langsam bekommt, anstellt und wie man sie für sich selbst nutzbar macht, steht dann noch mal auf einem anderen Blatt. Dies knüpft dann erneut an dem Mündigkeitsaspekt an, also an der Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und letztlich aus den Informationen auch Wissen werden zu lassen.


(in dem Zusammenhang und insgesamt: danke dreamdancer für deinen Beitrag!!)

Die Frage, wie eine gute von einer schlechten Ausführung unterschieden wird, knüpft ebenfalls am Mündigkeitsaspekt an und ich möchte dazu die Behauptung aufstellen, dass auch manch ein entschleunigtes Medium eben nicht zwingend eine gute Zusammenfassung liefert.
Und schon lande ich wider bei der Medienkompetenz und der Urteilsfähigkeit des Menschen, die zweifelsohne in der heutigen Zeit durch das Netz mit seiner Bilderflut und diversen Unwahrheiten mehr gefragt ist, als noch vor 20 Jahren.

Ich finde dreamdancers Gedanken sehr interessant und größtenteils für mich schlüssig. Ich denke, das Konstrukt "breite Masse" haben wir ja nun erläutert und ein stückweit irgendwie geklärt. 🙂
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dreamdancer schrieb:
Nun gut - in diesem Sinne möchte ich die These aufstellen, dass Wikipedia geradezu ein Paradebeispiel dafür ist, dass wir in einer (im oben genannten Sinne) aufgeklärten Gesellschaft leben. Eben die Menschen, die zum allgemeinen Wissen beitragen und sich dabei nicht über andere stellen, handeln aufgeklärt. Gerade die beständige Flexibilität und gleichbereichtigte Diskussion machen die mündige Gemeinschaft aus.
Interessant!
Also ich denke, wir können schon mal von der Grundannahme ausgehen, dass ein Phänomen wie Wikipedia zumindest in einer nicht aufgeklärten Gesellschaft nicht möglich wäre.

DianaS schrieb:
Ich glaube, Kant hatte anderes im Sinn, als er diese Zeilen schrieb ... aber im Endeffekt würde ich mich auch der von Kant vertretenen Ansicht anschließen. In seiner Schrift "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" hat er den Mut des Bürgers gefordert, sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu lösen. Dabei bezeichnet er den Zugang zu Informationen, die "Freiheit der Feder" - und meinte damit zwar die Meinungs- und Pressefreiheit, dies aber nicht i. S. v. Info - Maschinen, Wikipedia etc., im Gegenteil. Deine Auslegung der kantischen Philosophie widerspricht gerade, meiner Ansicht nach, seinem Verständnis von Wissen und Vernunft - als wesentliche Bedingung für die Mündigkeit des Einzelnen, "von der Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen".

Ich weiß nicht, inwiefern man Kant nun 1:1 in die heutige Zeit übertragen kann. Wir leben immerhin in einer Gesellschaft, in der der Informationsfluss viel, viel schneller ist. Gutes Handwerkszeug und eine grundlegende Bildung sind notwendig, gleichzeitig die Fähigkeit, sich schnell Informationen zu beschaffen.

Ich muss dazu sagen, dass ich Kant nicht gelesen habe und dass mein Wissen gerade noch von sapere aude bis zum kategorischen Imperativ reicht. Ich kenne mich also nicht wirklich gut aus und es mangelt mir momentan leider auch an der Zeit, mich damit nun umgehend intensiv auseinanderzusetzen.
Den Wikipediaartikel kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen und der Aster gibt nicht so viel her
😀 😀 😀
Ich kann also nicht beurteilen bzw. ernsthaft interpretieren, was Kant nun genau im Sinn hatte, als er diese Zeilen schrieb.
Auf dieser Grundlage hier (gerne auch losgelöst von Kant), schließe ich mich dreamdancers Gedanken an. Es handelt sich bei Wikipedia ja nicht um eine Maschine, sondern um eine sich im ständigen Fluss befindende Plattform des Informationsaustauschs, sozusagen. Das fordert vom Nutzer bei ernsthafter Auseinandersetzung (wie es auch Zeitungen bei ernsthafter Auseinandersetzung fordern), sich seiner Vernunft zu bedienen und davon Gebrauch zu machen.

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dreamdancer schrieb:
Hiernach kann also mitnichten der Staat für die Mündigkeit der Menschen verantwortlich sein! Im Gegenteil: es geht doch gerade darum, ohne Anleitung selbst zu denken.

Das sehe ich anders.
Aus Kants Aussage zur Aufklärung lässt sich meines Erachtens nicht ableiten, dass der Staat nicht berechtigt ist, den einzelnen Bürger zu Mündigkeit anzuleiten. Ich glaube, dass das an der Sache vorbeigeht, da ich diesem herausgerissenen Zitat entnehme, dass Kant eher kompetenz- als inhaltsorientiert ist. Daher ist die bloße Kompetenzvermittlung "unschädlich", da sie nicht anstrebt, eine bestimmte Auffassung aufzuoktroyieren.
Der Staat, der ja ein demokratischer sein will, trägt schon allein wegen dieser Eigenschaft meines Erachtens eine nicht unerhebliche Mitverantwortung für die Mündigkeit seiner Bürger, die seine Grundlage bilden. Wenn man zudem davon ausgeht, dass wir als unmündige Wesen geboren werden, muss also erstmal eine Form der Mündigkeit erlangt werden. Die Schulen liegen größtenteils in der Hand des Staates und wollen zu einem Mitglied einer demokratischen Gesellschaft erziehen.
Mündigkeit kann bzw. muss gelernt werden. Mündig ist man nicht automatisch und da trägt gerade der Staat eine sehr große Verantwortung.

Deinem Gedanken, dass schließlich das Individuum selbst verantwortlich ist, stimme ich dennoch auch zu. Dass schließlich der Staat auch nicht "anleiten" darf, wenn es um Mündigkeit geht, ebenfalls. Zumindest, wenn man das anleiten als ein Vorschreiben von richtig oder falsch versteht.
DianaS schrieb:
Der Staat muss die Bürger nicht nur als mündig bezeichnen, sondern auch als mündig behandeln. Dies findet jedoch nicht statt...
Ja. Dass die Realität in Teilbereichen anders aussieht, ist leider nicht von der Hand zu weisen. An dieser Stelle ist dann der hoffentlich schon einigermaßen mündige Bürger gefragt.

Jesses.... ein Roman @-)
Ich hoffe, dass ich euch mit euren Bezügen zu Kant richtig verstanden habe.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

PS: jetzt hab ich hier so viel geschrieben....
Es kann leider sein, dass ich es erst mal nicht weiter schaffe, noch weiter lang zu antworten, da ich im Moment irre viel zu tun hab...

ed. ... Danke an alle für eure Beiträge! 🙂


PPS: übrigens Ash... ich gucke auch kein Fernsehen 😀 ... allerdings sehe ich das alles nicht so dogmatisch. Ich hab schlicht keinen Bock, bei der alten Kiste das Scart-Kabel ständig mit dem DVD-Dings zu tauschen... Daher funzt das seit mehr als 3 Jahren nicht und ich vermiss es auch nicht wirklich
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Andra schrieb:
Huhu Dreamdancer,
Du hast mich gerade auf einen - vielleicht - provozierenden Gedanken gebracht! Wieso der mir jetzt erst mit Deinem Posting kam, weiß ich nicht.... Mein schusseliges Gehirn arbeitet meist sehr konfus

Neenee, Du hast mich schon ganz richtig verstanden (tigress übrigens auch). Vielen Dank für die konkreten Beispiele, die zu bringen ich versäumt habe. 😀 In Bezug auf lakaiinblack: Ich meine keineswegs, dass wir uns von der "breiten Masse" abheben, denn ich denke, dass diese in ihrer Breite dem angebotenen Programm durchaus so kritisch gegenüber steht wie wir. Aber seien wir ehrlich, hin und wieder will man einfach nur ein bisschen zerstreut werden. "Und das ist auch gut so!" (ich mag Wowi auch :ymhug: )

Da die Zeit schon ein bisschen fortgeschritten ist, schaffe ich wohl nur noch eine unangemessen kurze Antwort - sorry. Ich denke, Montesquieu liegt da nicht auf einer Linie mit Kant. Es liegt schon an jedem/jeder einzelnen, die Aussagen von Parteien zu bewerten. Dass ein mündiger Mensch sich irren kann und FDP wählt (*g* - das Beispiel gefällt mir), widerspricht nicht der Mündigkeit an sich.

Was die Erziehung angeht: Natürlich ist der Mensch nicht von Geburt an mündig - das sagt auch Kant. Jung sein ist sozusagen "unverschuldete Unmündigkeit" und ja, es gibt einen staatlichen Bildungsauftrag. Imo erfüllt der Staat diesen aber im Wesentlichen - vielleicht nicht perfekt, zugegeben, aber doch so, dass Erwachsene dabei herauskommen, die ein eigenes Urteilsvermögen haben. Medienkompetenz ist inzwischen durchaus ein Teil davon. Informationen zu bewerten traue ich der "breiten Masse" (also uns 😉 ) durchaus zu. Diese Diskussion ist sogar ein gutes Beispiel dafür.

Der Staat darf aber keineswegs mündige Menschen bevormunden. Wir sind alle für uns selbst verantwortlich. Und wie gesagt, Irrtümer sind erlaubt.

Meine These in Bezug auf Wikipedia ist sicher etwas gewagt und kann von Kant keineswegs vorgeahnt oder gemeint gewesen sein, schon klar. Aber ich bleibe dabei, dass die gleichberechtigte Diskussion und Vermittlung von Wissen (und allen Studien zufolge hat Wiki ähnlich viele Fehler wie der Brockhaus) ein Ausdruck von Mündigkeit derer ist, die daran teilnehmen. Es ist wird eben gerade "von der Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch" gemacht. Wenn ihr der Überzeugung seid, dass da nur Mist steht, so wäre die Konsequenz meiner Meinung nach, fleißig korrekt Wiki Einträge zu schreiben 😉

Ich als Physikerin habe übrigens in den entsprechenden Beiträgen noch keinen Fehler finden können, auch wenn die Artikel nicht immer didaktisch sind. Außerdem ist das Wiki ja noch sehr jung und im Zuge, sich selbst zu berichtigen. Fehlende Zitate werden generell bemerkt und angemahnt. Und klar, was geschichtliche Artikel angeht, so ergibt sich in der Schwerpunktsetzung ein gewisses Zerrbild. Aber wer sagt, dass sich das mit der Zeit nicht noch verbessern wird? Das Wiki gibt es noch keine 10 Jahre - wie lange hat es gedauert, die erste Brockhaus Enzyklopädie zu erstellen? Und Wiki ist durchaus kritisch mit sich selbst: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia#Einflussnahme_von_Interessengruppen Kann man das vom Brockhaus sagen? (das ist jetzt nicht provokativ gemeint)

soweit erstmal meine 2 cent
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

dreamdancer:
So sehe ich das auch. Dem, was du sagst, kann ich mich in allen Bereichen anschließen und viel mehr bleibt mir da auch eigentlich nicht zu sagen.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

dreamdancer schrieb:
Neenee, Du hast mich schon ganz richtig verstanden (tigress übrigens auch).

O.k. - ich war mir nicht so ganz sicher, ob Du darauf hinaus wolltest. Immerhin habe ich das Posting noch VOR meinem Zweitkaffee verfasst.
Wer mich kennt, weiß, was DAS heißt 😀
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

tigress schrieb:
Ich weiß nicht, inwiefern man Kant nun 1:1 in die heutige Zeit übertragen kann.

Möglicherweise nicht 1:1, aber eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen Theorien ist meiner Ansicht nach geboten und ... ja sogar dringend erforderlich. Seine Ideen (besser: ihre Ideen, also von Kant und Montesquieu) klären uns nicht nur auf, damit wir zu einer (mitdenkenden) Wissensgesellschaft werden, sondern machen auch deutlich, dass für uns (mündige Bürger) eine umfassende Beteiligung am Willensbildungsprozess in den entscheidenden Phasen der Politikformulierung unabdingbar ist (FDP - Wahl (!)).


tigress schrieb:
Auf dieser Grundlage hier (gerne auch losgelöst von Kant), schließe ich mich dreamdancers Gedanken an. Es handelt sich bei Wikipedia ja nicht um eine Maschine, sondern um eine sich im ständigen Fluss befindende Plattform des Informationsaustauschs, sozusagen. Das fordert vom Nutzer bei ernsthafter Auseinandersetzung (wie es auch Zeitungen bei ernsthafter Auseinandersetzung fordern), sich seiner Vernunft zu bedienen und davon Gebrauch zu machen.
Hm ... wie ich bereits unten schrieb, ist die Berichtserstattung durch die Medien (Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten) für den freiheitlichen Rechtstaat unabdingbar. Der Wikipedia würde ich aber nicht die Relevanz von Zeitungen zuschreiben. Denn der Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung fällt bei Wikipedia viel viel geringer aus als bei Zeitungen (Fernseh- od. Rundfunkanstalten).
--
Aber im Übrigen schließe ich mich Euren Ausführungen, Tigress, Andra, Ash und Dreamdancer an. 🙂
LG
Diana
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Hallo @ all,
es gibt noch einen weiteren Punkt in dem Interview, der mir am Herzen liegt, und das ist Europa.Meine eigene Begeisterung für das Konzept eines gemeinsamen Europas hat überhaupt nichts mit Herrn Veljanovs Ansichten und Wünschen zu tun, ist viel älter als meine Wahrnehmung von ihm und hat ihre Wurzeln -wie sehr vieles bei mir- in der Literatur.
Jedoch sieht die Realität nicht sehr schwärmerisch aus. Ich möchte hier Diana zitieren, habe aber den Papst aus ihrem Text hinausgeworfen, denn in meinen Augen bezog sich Veljanovs implizierte Papstkritik auf eine kranke Bevölkerungspolitik in den 3. Welt Staaten und nicht auf die aktuelle, europäische Situation.

DianaS schrieb:
@ Ash
Der "Niedergang" ist doch unübersehbar. "Europa" ist ein (frommer) Wunsch, der sich bis heute nicht erfüllt hat. Es existiert weder ein homogenes Staatsvolk noch gibt es eine gemeinsame Sprache. Dem Straßburger Parlament fehlt die Macht. Da die Adressaten möglicher Kritik in siebenundzwanzig verschiedenen Städten residieren, kann die Presse ihrer Aufgabe in keiner Weise gerecht werden. Die deutschen Abgeordneten haben nichts mehr und die europäischen noch nichts zu sagen und das von Herrn Veljanov ach so herbeigesehnte Europa findet hinter verschlossenen Türen statt. Die Politiker haben sich bereits daran gewöhnt. Ihr natürlicher Hang zur Geheimnistuerei, dem sie auf nationaler Ebene wenigstens mit Schuldbewusstsein nachgehen, ist auf der supranationalen Ebene zur reinen Selbstverständlichkeit geworden. Und Vorwände gibt es genug, z.B. dass sie auf die Eigenarten der europäischen Partner Rücksicht nehmen müssten oder, dass Diskretion um der Effizienz willen nötig sei etc. Dabei haben sie es verlernt, so scheint es, über ihre eigene Verantwortlichkeit gegenüber den Menschen nachzudenken - die Prioritäten haben sich verschoben, Europapolitik ist zum Selbstzweck und zur einer Farce geworden ... oder interessiert es noch jemanden, ob die Ziele der deutschen und der französischen Gewerkschaften identisch sind? (Oder was verbindet die Beerenpflücker in Bari (Italien) mit den Werftarbeitern in Hamburg? Oder wie lassen sich politische Ideen auf Europaebene festsetzen? Oder was bedeutet es, wenn die Politik der Christdemokraten und der Gaullisten übereinstimmt oder auseinanderfällt?), nein, nicht wirklich.[...] --

Ich habe am Wochenende den Zeitartikel über die zynischen Abkommen zwischen Europa, vornehmlich Italien, und Libyen gelesen und bin entsetzt. Zusätzlich bin ich mir sicher, dass jedem von uns noch weitere Gründe einfallen würden, warum Europa nicht funktionieren kann, allen voran die Unbezahlbarkeit des Ganzen.
Warum hält man also wider jede Vernunft an einem Konzept fest, dass so offensichtlich vom "Niedergang" ergriffen ist?
In meinem Fall ist es bestimmt auch die romantische Neigung für eine verlorene Sache zu stehen, no matter what, aber jenseits davon wehre ich mich ein wenig gegen den "Machbarkeitswahn" unserer Zeit, in dem ein Problem erkannt, angegangen und gelöst werden muss. Und gut ist. Wenn das Problem nicht sofort lösbar, oder gar unlösbar erscheint - nun, dann ist die Sache eben vom Niedergang erfaßt.
Aber Europa und die europäische Geschichte sind so alt, dass man vielleicht auch für die Lösung besser ein paar Jahrhunderte einplanen und Strassburg, Brüssel und das gegenwärtige europäische Parlament (mit all seinen Ärgernissen) nur als einen Schritt in die richtige Richtung begreifen sollte. Ich halte daran fest, dass ein vereintes Europa größer und stärker als die Summe seiner Einzelstaaten sein und von seiner kulturellen Vielfalt und langen Geschichte immens profitieren könnte.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

@ Lady Ash:

Hmm... das ist eine sehr emotionale Perspektive für so ein komplexes Thema. Aber mit Romantik alleine wird man das Problem nicht lösen können.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

DianaS schrieb:
Möglicherweise nicht 1:1, aber eine eingehende Auseinandersetzung mit seinen Theorien ist meiner Ansicht nach geboten und ... ja sogar dringend erforderlich.

Sicher haben Kants Theorien eine Relevanz.
Ich finde es donnoch schwierig, verallgemeinernd davon zu sprechen, dass eine eingehende Auseinandersetzung "geboten" bzw. dringend erforderlich ist. Für dich ist es das. Für jemand anderen ist es das vielleicht nicht.

Ich finde es zum Beispiel wichtiger, sich mit Medien auseinanderzusetzen, Wirkungsmechanismen aufzudecken und einen offenen Blick zu bewahren, als Kants Theorien im Detail zu kennen.


DianaS schrieb:
Hm ... wie ich bereits unten schrieb, ist die Berichtserstattung durch die Medien (Zeitungen, Fernseh- und Rundfunkanstalten) für den freiheitlichen Rechtstaat unabdingbar. Der Wikipedia würde ich aber nicht die Relevanz von Zeitungen zuschreiben. Denn der Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung fällt bei Wikipedia viel viel geringer aus als bei Zeitungen (Fernseh- od. Rundfunkanstalten).
Ich gebe dir völlig Recht, dass Berichterstattungen in Form von Zeitungen oä unabdingbar sind. Ich habe meines Erachtens auch nie anderes behauptet. Mir ist gleichfalls bewusst, dass Wikipedia nicht die gleiche Relevanz hat. Letztlich ist eine Enzyklopädie etwas komplett anderes und will etwas völlig anderes.
Ich habe Zeitungen als Beispiel angeführt, weil es mir darum ging, zu verdeutlichen, dass das geschriebene Wort nicht zwingend einer Wahrheit entspricht und kritisches Lesen erforderlich macht. Zeitungen bieten sich da als Beispiel an, weil in Zeitungen häufig Objektivität suggeriert wird und weil häufig die Annahme besteht, dass eben Dinge, die in der Zeitung stehen, dann ja wohl auch stimmen.

Meine Ansicht ist: Der Kern ist die Kompetenz, sich seines Verstandes zu bedienen... Medienkompetenz
... nicht das Medium selbst, zunächst mal unabhängig davon, welche Relevanz es hat...
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

tigress schrieb:
Meine Ansicht ist: Der Kern ist die Kompetenz, sich seines Verstandes zu bedienen... Medienkompetenz ... nicht das Medium selbst, zunächst mal unabhängig davon, welche Relevanz es hat...

Dem schließe ich mich an.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

@ Ash (Nachtrag)
Lady Ash schrieb:
Ich halte daran fest, dass ein vereintes Europa größer und stärker als die Summe seiner Einzelstaaten sein und von seiner kulturellen Vielfalt und langen Geschichte immens profitieren könnte.

Wir haben soeben Herrn Veljanovs Ideen und Ansichten in Bezug auf Europa unter Kollegen kontrovers diskutiert ... im Ergebnis bin ich nach wie vor der Ansicht, dass ein Europa in Deinem ( und Veljanovischem) Sinne sich nicht verwirklichen lässt. Denn für die Verwirklichung eines solchen Europas wären vor allem identische Grundstrukturen und gemeinschaftliche Orientierung (gemeinschaftliches Vorgehen) auf wirtschaftlichem, rechtlichem, kulturellem, wissenschaftlichem und administrativem Gebiet zwingend erforderlich. Dies erfolgt aber nicht, nicht, weil es nicht möglich ist, sondern vielmehr, weil eine transnationale "Verschmelzung" der Völker schlicht und ergreifend nicht im Interesse der einzelnen Staaten liegt (so scheint es jedenfalls), insb. nicht im Interesse Großbritanniens (und schon gar nicht im Interesse der USA und Russischer Föderation - denn vereintes Europa könnte auch zu einer, für USA und Russland nicht ungefährlichen, imperialen Übermacht erstarken. Hmm ... Unerwünscht). Also was bleibt, ist schlichte "Konföderation".
Aber möglicherweise ist das Problem ein anderes und meine Ausführungen/Überlegungen zu diesem Thema überflüssig.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Nachtrag
In diesem Augenblick fühle ich mich an "L'identite" von Kundera erinnert. In diesem Roman zeigte er Augenblicke auf, in denen es uns nicht mehr gelingt, die Menschen, mit denen wir leben, zu erkennen, Momente, in denen die Identität des Anderen wie ausgelöscht ist und wir zugleich an unserer eigenen zweifeln. Möglicherweise befindet sich auch Europa in einer solchen Krise der Identität ... ??
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

@Tormod
Ja, manchmal neige ich zu schwärmerischen Ergüssen


@Diana
DianaS schrieb:
Denn für die Verwirklichung eines solchen Europas wären vor allem identische Grundstrukturen und gemeinschaftliche Orientierung (gemeinschaftliches Vorgehen) auf wirtschaftlichem, rechtlichem, kulturellem, wissenschaftlichem und administrativem Gebiet zwingend erforderlich.

Nein, ich denke nicht, dass irgendjemand identische Grundstrukturen anstrebt, oder dass diese wichtig wären, zumindest nicht in allen Bereichen. Der Schlüsselpunkt, an dem bisher ja alles zerbricht, ist m.E. nach die doch sehr unterschiedliche wirtschaftliche Kompetenz der europäischen Staaten, wie wir zur Zeit wieder in Irland erleben.
Aber eine kulturelle Verschmelzung wäre z.B. weder wünschenswert noch notwendig, denn gerade der kulturelle Reichtum wäre ja eine der ganz großen Stärken dieses Europas. Wahrscheinlich müsste nicht einmal eine einheitliche Rechtssprechung gegeben sein, solange es gemeinschaftliche Eckpunkte gäbe - da doch z.B. die USA staatenintern erhebliche Unterschiede in ihrem juristischen Procedere haben, mit Geschworenen oder ohne, Todesstrafe mal ja und mal nein.

DianaS schrieb:
denn vereintes Europa könnte auch zu einer, für USA und Russland nicht ungefährlichen, imperialen Übermacht erstarken. Hmm ... Unerwünscht

Ja, da ist etwas dran. Und es ist auch ein kleines bisschen das Bewusstsein um diese potentielle, europäische Stärke, die mich wünschen lässt, Europa könnte ein einziges konföderalistisches Staatengebilde sein. Nicht um mit einem neuen Imperialismus die Welt zu bedrohen, sondern um aus einer alten Geschichte heraus zu zeigen, dass es besser geht.
Aber so etwas setzt in vielen Bereichen ein höheres Maß an gegenseitiger Toleranz voraus als zur Zeit gegeben ist, und darum denke ich, dass Europa letztendlich ein Jahrhundertprojekt bleiben wird. Nur würde ich es nicht gänzlich aufgeben oder für gescheitert erklären wollen.
Und dann bleibt noch die Einsicht des Duos DL aus dem Sonic Seducer Interview anlässlich des Erscheinens von Indicator, wonach Künstler die Welt eben nur kommentieren nicht aber ändern können. In dieser Art würde ich auch Alexander Veljanovs europäische Betrachtungen einordnen; sie sind ein Kommentar, ein persönlicher Wunsch, vielleicht, aber keine Anleitung zum Bau eines Hauses Europa (den Begriff hat Gorbatschov einmal gemünzt, oder?).
 
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Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

@ Ash
"... um aus einer alten Geschichte heraus zu zeigen, dass es besser geht", ja, in dieser Hinsicht gehe ich mit Deiner Auffassung konform. Denn eigentlich verdankt der Kern aller universalmenschlichen Werte seine Formulierung, Implementierung, Fixierung und Sanktionierung seit Antike, Renaissance und Aufklärung im Wesentlichen Europa: Ohne Platon und Aristoteles kein Humanismus, ohne das griechisch-römische Staats- und Rechtsdenken keine Renaissance, ohne Europa kein moderner Rechtsstaat, keine Grundrechtecharta, keine Menschenrechtserklärungen, keine Juridifizierung und Durchsetzung dieser Grundwerte und und und ... nur bin ich der Ansicht, dass für Europa in Deinem Sinne "konföderalistisches Staatsgebilde" dennoch gewisse, verbindende Grundstrukturen und Grundsätze, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam wären, unabdingbar sind hm ... verstehst Du, als eine Art Reservoir zur Selbstvergewisserung, Selbstdefinition und Verbundenheit Europas gegenüber Außereuropäischem.
--
Lady Ash schrieb:
In dieser Art würde ich auch Alexander Veljanovs europäische Betrachtungen einordnen; sie sind ein Kommentar, ein persönlicher Wunsch, vielleicht, aber keine Anleitung zum Bau eines Hauses Europa .

Ja, das verstehe ich, und es war nicht meine Absicht, zu versuchen, Herrn Veljanovs Ansichten in Abrede zu stellen etc., ich wollte vielmehr meine Überlegungen zu diesem Thema darlegen.
--
"(den Begriff hat Gorbatschov einmal gemünzt, oder?)"
Ja, und Johannes Rau. 🙂
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Nachtrag @ Ash
Lady Ash schrieb:
Wahrscheinlich müsste nicht einmal eine einheitliche Rechtssprechung gegeben sein, solange es gemeinschaftliche Eckpunkte gäbe - da doch z.B. die USA staatenintern erhebliche Unterschiede in ihrem juristischen Procedere haben
Ich begleitete heute meinen Chef zu einer Veranstaltung (mit dem Thema: "EU Privatrecht ante portas" od. so ähnlich) und musste unwillkürlich an Deinen o. g. Satz denken. Die Veranstaltung enthielt u. a. mehrere Kurzbeiträge im Bereich des Europäischen Privatrechts, aber hauptsächlich handelte es sich, in der zugegebenermaßen teilweise sehr leidenschaftlich geführten Diskussion, um die Vereinheitlichung des Privatrechts. Und obwohl ich die Podiumsdiskussion aufmerksam verfolgte, ist mir immer noch nicht klar (bzw. nach der PD noch weniger klar), was das Europäische Privatrecht umfasst (Schuld- und Vertragsrecht Rom. I und Rom. II - Verordnungen od. irgendwann auch das Arbeits-, Gesellschafts-, Handelsrecht? und Sachenrecht?) was das eigentlich ist bzw. was es einmal werden sollte (u. a. in Bezug auf das IPR). Ich empfand das Diskussionsthema als eigenartig unbestimmt ... zahlreiche Juristen (u. a. auch aus Paris und London) brachten ihre ganz verschiedene Wünsche in Bezug auf das EU Privatrecht zum Ausdruck, und verfolgten dabei, wie es schien, höchst unterschiedliche Ziele, aber im Endeffekt, und das ist eigentlich das Überraschende, gab es kaum Bestrebungen, zu versuchen, Möglichkeiten für ein vereinheitlichtes Recht aus dem Fundus der gemeinsamen Traditionen der Mitgliedstaaten der EU darzulegen od. wenigstens die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Rechtsordnungen aufzuzeigen, um eine grenzüberschreitende juristische Diskussion um Europa führen zu können, nein, die deutsch-französischen Juristen aus Paris zeigten sich ganz entzückt von der Eleganz des Code zivil und die Berliner lobten ihr/unser BGB ... aber wenigstens waren sich alle einig, dass es auf dem Gebiet des Vertragsrechts (historisch bedingt) viele Gemeinsamkeiten unter den europäischen Rechtsordnungen gibt.

Insofern hast Du Recht, indem Du schreibst, dass "Europa letztendlich ein Jahrhundertprojekt bleiben wird" ... wie der Musiker Xavier Naidoo es einmal "prognostizierte" (?): "Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer." - nur, Wege entstehen beim Gehen (liebes EU Parlament).
Nur mal so.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Zitat: "Hier geht es in "Europe" natürlich aufgrund des Europabezugs vor allem um die christlichen Kirchen, die immer versucht haben, Macht zu konservieren und zu mehren. Das geht bis heute. Nicht mehr so offensichtlich. Und da stellt sich doch die Frage, wo sind sie denn eigentlich, die echten Hüter des Christentums?"

In dem Roman "Die Brüder Karamasow", den ich gerade lese, entwirft Dostojewski durch Dimitrij als Antwort auf die "Arroganz" der Kirche, "welche sich den Staat gefügig macht", den Gedanken eines Staates, der sich die Kirche nicht unterwirft, sondern selbst zur Kirche wird, und diese somit überflüssig macht.
Im Hochmittelalter erhob sich die Kirche zum Vormund des Staates, versuchte "Macht zu konsumieren und zu mehren" (oder besser: Theoretisch war der Staat eine Art Emanation der geistlich verstandenen res publica). In der Neuzeit wurde jedoch der Staat zum Vormund der Kirche - der Staat, der sich durch verfassungsrechtlich zu formulierende Staatsziele anmaßt, immer mehr geistige Inhalte vorzuformulieren (auch in EuGRC) ja sogar transzendente Werte zu inkorporieren, ist vielleicht auf dem Weg, eine Kirche im Sinne des Dimitrij zu werden??
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

DianaS schrieb:
der Staat, der sich durch verfassungsrechtlich zu formulierende Staatsziele anmaßt, immer mehr geistige Inhalte vorzuformulieren (auch in EuGRC) ja sogar transzendente Werte zu inkorporieren, ist vielleicht auf dem Weg, eine Kirche im Sinne des Dimitrij zu werden??

Als These mag ich deine Überlegung sehr ... wobei ich aber darauf hinweisen möchte, dass einige, grundsätzliche Staatsziele wie die Bewahrung der Menschenwürde, die Bürgerrechte und ein ganz allgemeiner Freiheitsanspruch von jeher transzendent konzipiert waren. Ich nehme aber an, dass sich deine "vorformulierten, geistigen Inhalte" eher auf aktuelle ethische Probleme wie z.B. die Forschung an Embryonen beziehen. Ein heikles Thema, zu dem ich selber noch keinen Abschluss gefunden habe.
Insofern, ja, in gewisser Weise "maßt" sich der Staat schon an, transzendente Belange zu entscheiden. Ich glaube, ich finde das besser, als diese Entscheidungen in ihrem historischen Zuständigkeitsbereich, der Kirche, zu belassen. Aus verschiedenen Gründen, vornehmlich, weil der Staat (zumindest in meiner laienhaften Vorstellung) pluralistischer strukturiert ist, als die Kirche, besonders die katholische Kirche. Die Vorstellung, dass ein alter Mann in Rom mehr oder weniger alleine ethische Fragen nach seinem Gutdünken entscheidet, finde ich persönlich sehr erschreckend. Im Prinzip "mag" ich sogar die römisch-katholische Kirche mit ihren alten, alten Ritualen, die hier auf dem Lande noch immer das Leben vieler Leute bestimmt und ihnen zweifellos Halt gibt. Halt, übrigens, der mir selber manchmal fehlt. Nur werde ich nie, wirklich niemals, zum Katholizismus konvertieren können, solange es dort die Institution des Papstes gibt. Ich weiß, dass du ihm mit Verehrung begegnest - ich selber kann ihm wohl nicht einmal viel Respekt entgegenbringen. Obwohl ich weiß, dass er ein sehr intelligenter Mann sein soll.

Um aber abschließend auf die (von mir prinzipiell gut geheißene) Anmaßung des Staates, transzendente Fragen zu entscheiden, zurückzukommen ... so würde ich die Kirche dadurch dennoch nicht aus ihrer historischen Schuld entlassen wollen.

Ich bin mir nicht sicher, ob deine These in diese Richtung ging, oder ob du auf etwas ganz anderes abzieltest.
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Lady Ash schrieb:
Ich bin mir nicht sicher, ob deine These in diese Richtung ging, oder ob du auf etwas ganz anderes abzieltest.
Meine Überlegung war viel allgemeiner gemeint. Dostojewskis Gedanken in "Die Brüder Karamasow" in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Kirche ließen mich darüber nachdenken, was sich wohl einem hm ... "Totalitarismus" des Staates noch entgegenstellen könnte, wenn es die Kirche wirklich nicht mehr gäbe. In diesem Zusammenhang dachte ich u. a. an den Kruzifix- Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (und nicht zuletzt an den Europäischen Verfassungskonvent ...).

Lady Ash schrieb:
Die Vorstellung, dass ein alter Mann in Rom mehr oder weniger alleine ethische Fragen nach seinem Gutdünken entscheidet, finde ich persönlich sehr erschreckend.

Ich glaube nicht, dass der Heilige Stuhl anstrebt, seine Positionen (u. a. auch in Bezug auf die Forschung an Embryonen) zur Grundlage von Gesetzen zu machen, die alle Welt binden sollen. Abgesehen davon wäre dies in unserer pluralistischen Gesellschaft und säkularer Rechtsordnung ohnehin nicht vertretbar und nicht möglich. Ich denke, der Katholischen Kirche geht es vielmehr um die Wahrnehmung ethischer Aspekte, und konkret auf die Forschung an Embryonen bezogen, um den Schutz des ungeborenen Kindes. Denn dieser starke Schutz des ungeborenen Menschen resultiert sich aus den Einflüssen der historischen ethischen Grundwerte, wie sie z. B. auch von Kant in seinem praktischen Imperativ formuliert wurden.
Hm ... möglicherweise vertritt die römisch - katholische Kirche häufig, und insbesondere in Bezug auf die Forschung an embryonalen Zellen, eine ... etwas rigoristische Position. Mag sein. Aber auch evangelische Kirchen haben sich zur Forschung an Embryonen wiederholt sehr restriktiv geäußert oder??
--
Kennst Du vielleicht "Evangelium Vitae", Enzyklika von Papst Johannes Paul II? Die Enzyklika setzt sich vor allem mit der Frage des Rechts auf Leben auseinander.
--
(P.S.: Ich habe übrigens gelesen, dass in der katholischen Theologie bis in das das 20. Jahrhundert hinein die These der späten Menschwerdung (z.B. am 90. Tag) vertreten worden ist).
Ganz liebe Grüße aus Berlin 🙂
Diana
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

Lady Ash schrieb:
Die Vorstellung, dass ein alter Mann in Rom mehr oder weniger alleine ethische Fragen nach seinem Gutdünken entscheidet, finde ich persönlich sehr erschreckend.

*hüstel*

Bitte, bitte, bitte, wo doch hier soviel Wert gelegt wird auf Reflexion und Quellenstudium: Bevor hier irgendwelche Thesen zum Primat geäußert werden, lest doch bitte die Quellen. In diesem Fall die Konstitution "Pastor Aeternus". Hierin sind die zwei Grundlagen der Stellung des Papstes niedergelegt, die häufig durcheinander geworfen werden, die aber -- wenngleich sie eng verwoben sind -- inhaltlich scharf zu trennen sind: (1.) Der Papst ist Träger der höchsten Rechtsgewalt -- Jurisdiktionsprimat. Er ist Träger der ganzen Fülle der höchsten Gewalt in der Kirche (tota plenitudo supremae potestatis). Hierbei handelt es sich nach katholischer Sicht um die unmittelbare und ordentliche Rechtsgewalt ggü. den Kirchen wie auch gegenüber jedem einzelnen Mitglied der Kirche, gleich ob Kleriker oder Laie. Daneben besitzt er (2.) die höchste Lehrgewalt, sprich er kann unfehlbar Lehrsätze der Kirche sprechen. Dies ist aber an strenge Bedingungen geknüpft. Es ist keineswegs so, dass der Papst in seinem stillen Kämmerlein sitzen darf und sich irgendetwas ausdenken darf. Die Bedingungen, die sich aus dem Dogma der Infallibilität entsprechend Kapitel 4 der o.g. Konstitution ergeben sind kurz zusammengefasst:

1. Der Papst muss in Ausübung seines Amtes, also nicht als Privatperson sprechen. Er muss also kraft seiner höchsten apostolischen Autorität sprechen. Privatmeinungen des Papstes können somit nicht Inhalt eines unfehlbar verkündeten Lehrsatzes sein.
2. Nur Glaubens- der Sittenlehren sind Objekt unfehlbarer Definition, wobei neben der formell geoffenbarten Wahrheit auch die damit in Zusammenhang stehende Wahrheit dazugehört. Fragen der Naturwissenschaft pp. sind damit ausgeschlossen.
3. Nur aufgrund göttlichen Beistandes spricht der Papst unfehlbar. Ausgeschlossen sind damit neue Offenbarungen oder Inspirationen.


Im übrigen ergibt sich aus der Definition, dass die Kirche primäres Subjekt der Lehrunfehlbarkeit ist, die durch den Papst ausgeübt wird (Wenngleich man es wohl als umstritten ansehen darf, was dann aber in letztgültiger Konsequenz, die Formel "ex sese, non ex consensu ecclesiae" bedeutet)

Es ist also eben nicht so, dass ein alter (im Übrigen sehr weiser) Mann nach seinem Gutdünken ethische Fragen entscheidet.

Die Definition der Lehrunfehlbarkeit lautet (einschließlich der Formel zum Anathema) im Orginaltext:

"Itaque Nos traditioni a fidei Christianae exordio perceptae
fideliter inhaerendo, ad Dei Salvatoris nostri gloriam, religionis
Catholicae exaltationem et Christianorum populorum salutem,
sacro approbante Concilio, docemus et divinitus revelatum dogma
esse definimus: Romanum Pontificem, cum ex Cathedra loquitur,
id est, cum omnium Christianorum Pastoris et Doctoris munere
fungens, pro suprema sua Apostolica auctoritate doctrinam de
fide vel moribus ab universa Ecclesia tenendam definit, per assi-
stentiam divinam, ipsi in beato Petro promissam, ea infallibilitate
pollere, qua divinus Redemptor Ecclesiam suam in definienda
doctrina de fide vel moribus instructam esse voluit; ideoque eius-
modi Romani Pontificis definitiones ex sese, non autem ex con-
sensu Ecclesiae irreformabiles esse.
»Si quis autem huic Nostrae definitioni contradicere, quod Deus
avertat, praesumpserit; anathema sit.

Als frei verfügbare Quelle, die folgende Seite des Heiligen Stuhls (s. 47 des Dokuments):

http://www.vatican.va/archive/ass/documents/ASS%2006%20[1870-71]%20-%20ocr.pdf

DianaS schrieb:
Ich glaube nicht, dass der Heilige Stuhl anstrebt, seine Positionen (u. a. auch in Bezug auf die Forschung an Embryonen) zur Grundlage von Gesetzen zu machen, die alle Welt binden sollen. Abgesehen davon wäre dies in unserer pluralistischen Gesellschaft und säkularer Rechtsordnung ohnehin nicht vertretbar und nicht möglich.
[...]
Hm ... möglicherweise vertritt die römisch - katholische Kirche häufig, und insbesondere in Bezug auf die Forschung an embryonalen Zellen, eine ... etwas rigoristische Position. Mag sein. Aber auch evangelische Kirchen haben sich zur Forschung an Embryonen wiederholt sehr restriktiv geäußert oder??
[...]
(P.S.: Ich habe übrigens gelesen, dass in der katholischen Theologie bis in das das 20. Jahrhundert hinein die These der späten Menschwerdung (z.B. am 90. Tag) vertreten worden ist).

Ad 1.: Ich habe den Eindruck, dass sich zwar nicht der Heilige Stuhl, aber doch einzelne Ortsbischöfe um die Durchsetzung kirchlicher Lehren in nationalen Gesetzen bemühen. So meine ich mich an Exkommunikationsandrohungen gegen Parlamentarier verschiedener Staaten zu erinnern, bei Gesetzesvorhaben die der Lehre der Heiligen Kirche wiedersprechen.

Ad 2. Ich verstehe nach wie vor nicht -- und hier frage ich Dich, Diana, ausdrücklich als Kollegin, die auch in Fragen der Staatslehre und Staatstheorie nicht ganz unbewandert zu sein scheint: warum soll es unvertretbar sein, dass religiöse Positionen in einer säkularen Rechtsordnung ihren Niederschlag finden? Dies jedenfalls, solange hiermit nicht die Religionsfreiheit anderer eingeschränkt wird. Was macht sie weniger Wert, als die Auffassungen anderer sozialer Gruppierungen? Solange sie (und insoweit ist meine Frage wohl eher theoretischer Natur) vom Volk als Souverän getragen werden, kann ich keinen Widerspruch darin sehen, dass religiös motivierte Gesetze in einem säkularen Staat zur Anwendung kommen. Wie gesagt: So lange die Religionsfreiheit anderer nicht beschränkt wird...

Ad 3.: Ich halte die Lehre der Heilgen Kirche in Fragen der Forschung an embryonalen Stammzellen in positivem Sinne für rigoristisch und konsequent. Gerne können wir uns darüber austauschen.

Ad 4.: Ohne das Quellenthema neu beleben zu wollen 😉 nenn doch mal bitte die Quelle, dass die Kirche die These der "späten Menschwerdung" vertreten habe. Ich meine, mich doch ein wenig gerade in Fragen der Tradition auszukennen, habe aber hiervon noch nie was gehört...


Herzliche Grüße und einen frohen dritten Advent 🙂

PS: Ich glaub ich muss erstmal das Interview lesen, das den Aufhänger zu dieser Diskussion gegeben hat 😀
 
Re: Schnick-Schnack in den Weiten des www

@ Meister Athanasius

Meister Athanasius schrieb:
Ad 4.: Ohne das Quellenthema neu beleben zu wollen 😉 nenn doch mal bitte die Quelle, dass die Kirche die These der "späten Menschwerdung" vertreten habe. Ich meine, mich doch ein wenig gerade in Fragen der Tradition auszukennen, habe aber hiervon noch nie was gehört...

"Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation. Weltliches und kirchliches Strafrecht auf dem Prüfstand", Sabine Demel, 1995, Seite 15 ff.; Handbuch für Kirchenrecht, Sabine Demel, 1. Auflage 2010.

Meister Athanasius schrieb:
Ad 2. Ich verstehe nach wie vor nicht -- und hier frage ich Dich, Diana, ausdrücklich als Kollegin, die auch in Fragen der Staatslehre und Staatstheorie nicht ganz unbewandert zu sein scheint: warum soll es unvertretbar sein, dass religiöse Positionen in einer säkularen Rechtsordnung ihren Niederschlag finden? Dies jedenfalls, solange hiermit nicht die Religionsfreiheit anderer eingeschränkt wird. Was macht sie weniger Wert, als die Auffassungen anderer sozialer Gruppierungen? Solange sie (und insoweit ist meine Frage wohl eher theoretischer Natur) vom Volk als Souverän getragen werden, kann ich keinen Widerspruch darin sehen, dass religiös motivierte Gesetze in einem säkularen Staat zur Anwendung kommen. Wie gesagt: So lange die Religionsfreiheit anderer nicht beschränkt wird...
Ich konkretisiere: Ich bin der Auffassung, dass es in einer pluralistischen Gesellschaft und in der säkularen Rechtsordnung nicht vertretbar ist, einzelne weltanschauliche Positionen, insbesondere die restriktive Position der katholischen Kirche, die z.B. sogar für Ehepaare die künstliche Befruchtung untersagte, zur Grundlage von Gesetzen zu machen, die alle Bürger binden sollen. Unabdingbar für gesetzliche Regelungen (insb. im Hinblick auf die Forschung an Embryonen) halte ich allerdings die Aufarbeitung der allgemeinen Ethikdebatte.

Meister Athanasius schrieb:
Ad 3.: Ich halte die Lehre der Heilgen Kirche in Fragen der Forschung an embryonalen Stammzellen in positivem Sinne für rigoristisch und konsequent. Gerne können wir uns darüber austauschen.
Im Jahr 1987 legte die katholische Kirche fest, dass dem Embryo bei der Befruchtung von Gott eine Geistseele eingestiftet werde, die ihm Unsterblichkeit und vom ersten Tag an einen "absoluten" Schutzanspruch verleihe. Der Vatikan hat das Nein zur Forschung an Embryonen wiederholt bekräftigt und im Jahr 2006 sogar angekündigt, Forscher, die sich in dieser Hinsicht wissenschaftlich betätigen, exkommunizieren zu wollen. Andererseits ist in der katholischen Theologie bis in das 19. (ja in das 20.) Jahrhundert hinein die These der Spätbeseelung vertreten worden. Theorien der späten Menschwerdung, aus der ja eine Akzeptanz der Forschung an Embryonen abgeleitet wird, sind u. a. auch im Judentum sowie in östlichen Religionen maßgebend. Du siehst, also, Theologische/religiöse Denkansätze laufen keineswegs durchgängig auf einen unbedingten oder gar absoluten Schutz des pränidativen Embryos hinaus.
Aber auch juristisch/ethisch ist zwischen der Menschenwürde, die unantastbar ist (Art. 1 GG), und dem Lebensschutz (Art. 2 GG) zu differenzieren. Wie sich u. a. an Notwehr oder Nothilfe oder am ethisch und rechtlich tolerierten Schwangerschaftsabbruch zeigt, darf menschliches Leben im Not- und Konfliktfall ausnahmsweise zur Disposition gestellt werden. Hierdurch werden die Idee und die grundsätzliche Geltung der Menschenwürde nicht relativiert. Daher haben sich sogar das deutsche ESchG sowie das Stammzellgesetz, so restriktiv sie angelegt sind, keinen Standpunkt der absoluten Lebenserhaltung zu Eigen gemacht. Anders als es z. B. in Italien der Fall ist, verpflichtet das deutsche Embryonenschutzgesetz keine Frau dazu, sich eine befruchtete Eizelle auf jeden Fall einsetzen lassen zu müssen. Auf Grund des Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechts, das aus ihrer Menschenwürde resultiert, darf sie den Transfer eines Embryos verweigern.

Ich wünsche Dir auch einen wundervollen dritten Advent 🙂
LG
Diana
 
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